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Mein großer Sohn, mittlerweile 20 Jahre alt, ist ein „High-Functioning-Autist“. Im Kleinkindalter ähneln sie eher „frühkindlichen Autisten“, deswegen waren die ersten Jahre für meinen Mann und mich sehr anstrengend. Aus diesem Grund ist es vermutlich auch kein Wunder, dass wir fast elf Jahre gewartet haben, bis wir uns zu einem zweiten Kind entschieden. Und so kam unser zweiter Sohn Nick zur Welt.
Nick wuchs völlig normal auf, er machte all dass, was kleine Kinder so machen. Er schlief normal, aß normal, spielte normal und fing an zu sprechen. Dies sollte sich jedoch bald ändern, denn genau an dem Tag, als Nick die MMR-Impfung erhielt, hörte er auf zu sprechen, alles zu essen, normal zu schlafen oder zu spielen. Wir konnten das erst überhaupt nicht glauben und schoben den neuen Zustand auf „er bekommt ein Zähnchen“, „dass ist Zufall“, „er hat Bauchschmerzen“....Nein, dass wovor wir am meisten Angst hatten, war eingetreten. Nick hatte frühkindlichen Autismus und war noch wesentlich stärker betroffen wie unser ältester Sohn. Ob es in den Genen liegt, ob die Impfung zu früh war, wer kann das schon beantworten und wofür ist es wichtig? Es folgte was folgen muss: Sonderpädagogischer Förderbedarf, Integrationshilfe, Autismustherapie, unterstützte Kommunikation, Reittherapie und eine heilpädagogische Gruppe. Zu unserem großen Leid mussten wir feststellen, dass Nick nicht so einfach zu fördern war, wie der Große! Die Fortschritte waren marginaler und viel kleinschrittiger. Es war wie ein böser Traum, aus dem man nicht mehr wach wird. Es sei denn, der nächste Alptraum wartet um die Ecke.
Nick kam nun in die Schule und das erste Jahr lief besser, als wir erwartet hätten. Er fügte sich in die Klassengemeinschaft ein und wurde von allen akzeptiert. Er würde zwar nicht den Stand der anderen Schüler erreichen, aber er hatte sprechende Vorbilder, dass erachteten wir als einen wichtigen Punkt. Nichts und niemand konnte uns auf das vorbereiten, was dann geschah. Urplötzlich fing Nick an, sich selbst auf den Bauch zu schlagen, warf Gläser durch die Gegend, zwinkerte, knirschte, krähte wie ein Hahn, hüpfte auf dem Stuhl herum, als bekäme er Stromschläge. Er fing an zu schreien und zu weinen, warf im Liegen den Po hoch, oder die Beine. Er fuchtelte mit den Armen, fiepte wie ein Hund, konnte kaum essen oder trinken. Er schlug gegen Fensterscheiben, ließ sich nicht mehr wickeln ohne komische, heftige Bewegungen, die Schultern oder der Kopf ruckte…
Wir erkannten unser eigenes Kind nicht wieder und waren völlig hilflos. Es tat unheimlich weh, dass mit anzusehen, nichts wirklich tun zu können. Leider mussten wir etwas warten, bis wir den nächsten Termin im Sozialpädiatrischen Zentrum hatten. Bewaffnet mit einigen Videos und die Hoffnung hier Hilfe zu bekommen war groß. Am Telefon fragte man uns natürlich, ob dass nicht mit dem Autismus zusammen hängen könnte. Wir wüssten ja, dass autistische Kinder auch Tics, Stereotypien oder auch Manierismen hätten. Natürlich wussten wir das! Aber es war anders, ganz anders... Durch den Lockdown im letzten Jahr hatten wir genügend Zeit Nicks Verhalten zu beobachten, es sah manchmal aus, als bekäme er Stromschläge, als würde sein Körper sich selbst bestimmen und nicht mehr Nick. Es war anders und er war anders.
Im SPZ schaute sich die Ärztin die Videos an, zeigte diese Ihrer Vorgesetzten und erlebte selbst einige Tics von Nick. Sie hatten Tourette noch nicht so heftig erlebt, wie das, was sie jetzt bei Nick beobachten konnten. Die Diagnose kam aber erst viel später, denn die Tics müssen mindestens 1Jahr vorhanden sein, sowohl verbale wie motorische. Auch wenn uns jetzt manche Sachen, die vorher nicht zugeordnet werden konnten, schon länger auffielen. Eigentlich fanden wir z.B. mache Gesichtsausdrücke süß und auch autistische Kinder finden es mega spannend, wenn etwas runter fällt. Unser Leidensdruck war mittlerweile so hoch, dass wir der Aussage: „Sie kommen nicht mehr an Tabletten vorbei“, traurig zustimmten. Eigentlich war dass das Letzte, was wir wollten, aber Nick litt, wir litten und sein Bruder mit. Recht bald wurde Nick dann auf Tiaprid eingestellt, was aber mit der Wirkung sehr auf sich warten ließ. Die Ärztin erklärte uns immer wieder, es könne bis zu sechs Wochen dauern, bis sich eine Wirkung zeigt. Es waren sehr schlimme Wochen, aber endlich spürte man eine Verbesserung. Nick wurde fast so wie vorher, er hatte kaum noch Tics, es war wie ein Wunder. Endlich war da wieder unser Junge, der so gerne lachte, schaukelte oder spazieren ging. Es war endlich wieder ein für uns „normales Leben“ möglich..... dachten wir!
Unser Glück sollte nicht lange währen. Nach ca. 5 Monaten fing es wieder an schlimmer zu werden, eigentlich war es wie zuvor. Wieder sollten Videos gemacht werden, Tagebuch geführt werden ... In etwa zur gleichen Zeit, nahm ich Kontakt zur Tourette-Sprechstunde in Aachen und in Hannover auf. Mittlerweile hatte Nick die Diagnose „Gilles de la Tourette Syndrom“ drei Mal. Wir stellten nach ausführlicher Beratung nun auf Aripiprazol um und es wurde nach einiger Zeit besser, er hörte auf sich oder andere zu verletzen, jedoch hatte er immer noch starke Tics. Teilweise abends so schlimm, dass er vor zwei oder drei Uhr Nachts nicht einschlafen konnte. Er knirschte mit den Zähnen, dass man das Gefühl hatte, alle Zähne fallen irgendwann raus. Nach ca. einem halben Jahr, wenig Schlaf, viel Gekrähe und weinen waren wir uns sicher, es muss doch auch besser gehen. Wiederum nahmen wir Kontakt mit Hannover auf. Hier wurde uns empfohlen wieder Tiaprid zu geben, da es anfangs so gute Wirkung zeigte. Auch durften wir es viel höher dosieren, wie uns im SPZ gesagt wurde, da bei Tourette unabhängig von Alter und Gewicht bis zur Maximaldosis gesteigert wird. Tatsächlich lief es hier Anfangs wieder gut, wir waren voller Hoffnung und Euphorie, in der Hoffnung, wieder ein bisschen mehr Leben und Freude für unseren Sohn und uns zurück zu gewinnen. Aber…
es wurde schlimmer, bald sollten wieder alles Symptome erscheinen, die uns noch so unliebsam in Erinnerung waren.... Wieder bestimmte Tourette unseren Tag. Wir waren wirklich am Ende und sind seit dem erst mal nicht mehr zu Experimenten bereit. Also dosierten wir nach Absprache langsam wieder auf Aripiprazol zurück und leben momentan mit den weniger schlimmen Auswirkungen, die trotz allem noch sehr besorgniserregend sind. Jetzt müssen wir uns erst mal erholen und wieder irgendwie einen Alltag erleben. Sicher, dass ist jetzt kein Happy End, wie man es in Märchen findet. Deswegen wählte ich auch die Überschrift:“ Schlimmer geht immer.“ Es ist die Realität, wir haben einen nonverbalen Sohn mit frühkindlichen Autismus und allem was dazu gehört, mit Zwängen, Manierismen und zusätzlich dem Tourette Syndrom. Vielleicht ist das das Maximum, was wir erreichen können, vielleicht wird es schlimmer! Aber einen Funken haben wir, die Hoffnung! Vielleicht lernt Nick sich irgendwann zu artikulieren, vielleicht können wir ihm irgendwann ( wenn wir viel Geld gewonnen haben) eine große Turnhalle bauen, wo er sich austoben kann und mit seinen großen Luftballons, Bällen und jeder Menge Schaukelangeboten ein erfülltes Leben leben kann. Vielleicht werden die Tics in der Pubertät besser..
Vielleicht...
Dennis Krückel
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